Das didaktische Konzept von Gymn@zilla
1.1 Schwierigkeiten bei der Erweiterung des Wortschatzes
Eine große Schwierigkeit bei der Erweiterung des Wortschatzes ist die Entscheidung zwischen bewusstem Wortschatzlernen und beiläufigem Wortschatzerwerb [Cobb, 1999, Groot, 2000]. Willentliche Wortschatzerweiterung ist gezieltes Lernen von Vokabel und Übersetzung aus einer Wortliste. Diese traditionelle Methode wird von Sprachlernern normalerweise bevorzugt, weil sie verhältnismäßig schnell zu einem Lernerfolg führt. Der Nachteil dieser Methode ist, dass die Wörter nur oberflächlich gelernt werden, weil sie isoliert und normalerweise in der Grundform präsentiert werden. So gelernter Wortschatz wird schneller vergessen und macht dem Lerner größere Schwierigkeiten beim aktiven Gebrauch in Kontexten. [Bower und Clarc, ss] zeigen beispielsweise, dass Testpersonen 10 Worte viel leichter lernen, wenn sie in einem Text vorkommen als wenn sie einzeln präsentiert werden.
Didaktisch empfiehlt sich für das Wortschatzlernen daher, dass sich Lerner mit Vokabular ausgiebig beschäftigen, um es tief und fest im mentalen Lexikon zu verwurzeln [Aitchison, 1994, Kielhöfer, 1996], und dass Wortschatz personalisiert und mittels authentischem Text erweitert werden soll [Groot, 2000, Jones, 1999, Müller und Wertenschlag, 1996, Shei, 2001].
Diese Anforderungen erfüllt die beiläufige Wortschatzerweiterung beim Lesen in der Fremdsprache, denn auf die Bedeutung der Vokabeln wird aus dem Kontext geschlossen. Die beiden Vorteile dieser Methode sind, dass Vokabeln auf mehrfache Weise auftauchen und daher tiefer im mentalen Lexikon verwurzelt werden und dass Vokabeln mit der zu ihrer Verwendung notwendigen syntaktischen Information angetroffen werden.
[Cobb, 1999] wendet gegen diese Methode ein, dass sie oft nicht schnell genug ist um in akzeptabler Zeit das Vokabular für flüssiges Sprechen und korrekte Formulierungen zu erlangen. Eine weitere Schwierigkeit der beiläufigen Wortschatzerweiterung durch Lesen authentischer Texte ist nach [Groot, 2000] dass das zu lernende Vokabular von vielen unbekannten Wörtern umgeben ist. Auch [Chandrasekaran et al., 1998] fordern, dass Sprachlernern beim Verstehen semantischer und syntaktischer Aspekte der Zielsprache geholfen werden sollte. Darüber hinaus sollten nicht mehr als fünf bis 10 neue Wörter auf einmal präsentiert werden, weil diese Anzahl der optimalen Hirnkapazität für das Vokabellernen entspricht [Miller, 1956].
1.2 Das Wortschatzerweiterungskonzept von Gymn@zilla
Der goldene Mittelweg wäre die Kombination beider Ansätze, wie sie in mehreren Lesesystemen [Colazzo and Costantino, 1998, ten Hacken and Tschichold, 2001, Nerbonne et al., 1998, Plass, 1998, Shei, 2001] durch Annotierung authentischen Textes erreicht wurde. Annotierungen fördern das Sprachlernen [Chun, 2001, Laufer, 2000, Ridder, 2000], aber derartige Systeme verfügen in der Regel über ein geschlossenes Textkorpus, von dem feste Verweisungen zu internen Lexikoneinträgen annotiert wurden. Das ist unvereinbar mit freiem Verfolgen von Verweisen im Internet und dynamischer Annotation mit verschiedenen Wörterbüchern. Das Wortschatzerweiterungskonzept von Gymn@zilla annotiert dynamisch authentischen Internettext mit Definitionen, Übersetzungen Bildern und anderen allgemein zugänglichen Informationen [Streiter et al., 2003].
Wenn ein Internettext mit Gymn@zilla angesteuert wird, dann wird er zunächst auf dem Server von Gymn@zilla verarbeitet. Für jede Vokabel werden die verfügbaren (eigenen und frei zugänglichen) sprachlichen Informationen zusammengesucht. Dann wird ein Verweis von der Vokabel auf die Verständnishilfe (Eintrag in internem oder Online-Lexikon o.ä.) gelegt. Dadurch bekommen Lerner einen Internettext übermittelt, in dem sie ihnen unbekannte Wörter ohne viel Aufwand nachschlagen können. Im Übrigen bleibt die Verweisstruktur intakt und Internetsurfen möglich. Der Sprachlerner kann authentischen Text aufgrund der Annotation einfacher in der Fremdsprache verstehen und trotzdem die Vorteile von Internettexten und ihrer Hypertextualität ausnutzen. Durch Lesen fremdsprachiger Texte unter Zuhilfenahme eingebundener Lexikoninformationen wird der Wortschatz beiläufig erweitert und das mentale Lexikon wird in mehreren Schritten und auf mehreren Ebenen aktiviert. Außerdem beschäftigen sich Lerner ausgiebig mit den Vokabeln in einem Kontext, die ihnen entweder in sinnvollen Wortketten oder einem Fließtext präsentiert werden.
1.3 Dynamische Interaktivität
Der größte Unterschied zwischen traditionell gedrucktem und elektronischem Unterrichtsmaterial ist die Möglichkeit zur Interaktion [Swan, 2003]. Keines der bisher besprochenen Lernsysteme unterstützt das Lernen der Texte, indem es sie wahlweise als Lückentexte anbietet. Dabei sind Lückentexte ebenso beliebt wie effektiv. Heutzutage können Sprachlehrer mit spezieller Software Lernzielprüfungen erstellen. Entscheidungsfragen, Multiple Choice Tests, Zuordnungsaufgaben, Lückentexte, Buchstabierübungen und Texterstellungsaufgaben [Godwin-Jones, 2001] sind alle nicht mehr auf das Papiermedium beschränkt [Müller und Wertenschlag, 1996], sondern können nunmehr als multimediale Aufgaben konzipiert werden [Groot, 2000, Jones, 1999]. Sprachlerner können in multimedialen Lernsystemen Kollokationen und Wortkombinationen mit Korpora trainieren und sich ein persönliches Lexikon anlegen [Cobb, 1999, Lamy and Goodfellow, 1999, Shei, 2001]. [Bos and van de Plassche, 1994, Heift and Nicholson, 2000, Mayo and Mitrovic, 2001, Sentance, 1997, Soria, 1997, Virvou and Tsiriga, 2001] beschreiben Lückentexte, Grammatiktraining und sogar Satzbauübungen. Übungen dieser Art haben eine jahrzehntelange Tradition im Sprachenunterricht und ihr Nutzen wird unabhängig von der Methode nicht mehr hinterfragt. Die Effektivität solcher Übungen insbesondere für schwächere Lerner haben [Ito und Hannon, 2002] nachgewiesen.
Aus didaktischen Erfordernissen erstellt Gymn@zilla Lückentexte, bei denen höchstens ein Wort pro Satz und höchstens fünf bis zehn Wörter entfernt werden, weil diese Anzahl der optimalen Hirnkapazität für das Vokabellernen entspricht [Miller, 1956]. Der Ersteller der Aufgabe (Sprachlehrer oder -schüler) kann verschiedene Schwierigkeitsgrade auswählen. Der Schwierigkeitsgrad kann auch automatisch geändert werden, je nachdem, ob oft Hilfe verlangt wird:
Die entfernten Wörter können separat angezeigt werden oder nicht.
Sie können in ihrer Form im Text (als Stichwort) oder in der Grundform (als Schlagwort) angezeigt werden.
Die Lücke kann leer sein oder der erste Buchstabe des fehlenden Worts kann angezeigt werden.
Die Übersetzung in die Muttersprache kann in der Lücke stehen
1.4 Zusammenfassung Derzeit wird gerade die Stichhaltigkeit des Konzepts von Gymn@zilla an einem Prototyp erprobt (
http://www.eurac.edu/gymnazilla). Dieser Prototyp erlaubt die Annotierung von HTML-Seiten aus einem lokalen Korpus oder dem Internet mit Lexikoneinträgen aus dem allgemeinsprachlichen Lexikon von ELDIT (http://www.eurac.edu/eldit) und dem Fachlexikon von BISTRO (
http://www.eurac.edu/bistro) und anderen frei zugänglichen Online-Lexika. Die nächsten Entwicklungsschritte werden die Erweiterung der unterstützten Sprachen (Erweitern der Online-Informationen, zu denen verwiesen werden kann) und die systematische Evaluierung der Methoden mit Sprachlehrern und -lernern sein.
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